Bericht von David Binnig – Chefredakteur Zeitschrift “RennRad”
Extremradsport: Race Around Austria 2014
Gipfelrunde
Einmal um ein ganzes Land. 2.200 Kilometer, 30.000 Höhenmeter, nonstop – das ist das Race Around Austria. Unsern Autoren brachte es an seine Grenzen. Ein Erlebnisbericht.
Der Startschuss fällt an einem Mittwoch, um 10.16 Uhr, es regnet, ich fahre los, beschleunige, beuge den Oberkörper in Aero-Position und trete – bis freitags, halb ein Uhr nachts. 39 Stunden auf dem Rad, bis ich die erste Pause mache, fast 1000 Kilometer. Ich steige ab, meine Helfer stützen mich und bringen mich ins Wohnmobil, sie ziehen mich aus und helfen mir ins Bett. Die Radhose ist durchgescheuert, mein Hintern ist nicht nur wund, sondern verletzt. 90 Minuten Schlaf, traumlos.
Auf dem Rad fange ich dann an zu träumen. Vom Ziel, vom Absteigen, von Sonne, von Wärme, von einer Badewanne. Immer wieder muss ich mich zwingen, mich auf die Straße vor mir zu konzentrieren. Bloß nicht stürzen. Es war ein weiter Weg bis hierhin. Am Anfang war die Idee. Ich wollte etwas Neues machen, etwas noch extremeres als bislang. Das Race Around Austria, 2.200 Kilometer, 30.000 Höhenmeter, einmal um Österreich, das Zeitlimit liegt bei fünf Tagen und zwölf Stunden, etwas Härteres gibt es nicht in Europa.
Erste Zweifel
Ich bin 46 Jahre alt, Hobbyfahrer, ich arbeite 40 Stunden, habe ein Familie und doch brauche ich das Extreme. Vor zehn Jahren fuhr ich nach vielen Jahren des Fußballspielens mein erstes 24-Stunden-Rennen auf dem Mountainbike. Irgendwann habe ich eine neue Herausforderung gesucht. Seit mehr als acht Monaten bereite ich mich auf dieses Rennen vor. Seit November bis zum Start habe ich 18.000 Kilometer abgespult.
Vier Wochen vor dem Startschuss kamen die Zweifel. Wenn ich überlege, wie fertig ich nach einem 24-Stunden-Rennen bin und dann weiterdenke, dass das RAA fünf 24-Stunden-Rennen am Stück sind, wird mir mulmig. Auch die ganze Organisation war ein unfassbarer Aufwand. Die Crew besteht aus sieben Leuten, darunter meine Frau, meine Tochter, mein Bruder. Man muss erst einmal Jemanden finden, der bereit ist, eine Woche seines Urlaubs zu opfern und sich dabei auch noch die Nächte um die Ohren zu schlagen. Wir versuchen auf alle Katastrophen vorbereitet zu sein. Zwei Räder, eines mit normaler, eines mit Kompakt-Übersetzung, Ersatzmaterial, mehrere Lampen, Kartenmaterial, mehrere Navigationsgeräte, Unmengen an Radkleidung, Verpflegung, drei Autos, darunter das familieneigene Wohnmobil.
Beständiges Dreckswetter
Schon bei der Anreise goss es wie aus Eimern, so war auch die letzte Besprechung am Vorabend geprägt von Nervosität und Unsicherheit. Dann der Start in St. Georgen im Attergau, 10:16 Uhr. Im Regen.
Es geht nach Norden, zur deutsch-österreichischen Grenze, dann im Uhrzeigersinn durchs Mühlviertel. Ich komme gut ins Rennen und kann in den ersten Stunden einige Mitstreiter überholen. Der Funkstöpsel, den mir meine Betreuer ins Ohr geklebt haben, funktioniert. Es regnet weiter und wird kälter. Meine Crew muss mich immer wieder daran erinnern, genug zu trinken. Nach 350 Kilometern passieren wir den nördlichsten Punkt der Strecke, Litschau in Niederöstereich. Es ist mittlerweile 22 Uhr, der Rhythmus passt. Noch.
Das Wetter wechselt ständig zwischen starkem und schwachem Regen. Nach über 16 Stunden und 450 Kilometern wechselt um halb drei Uhr nachts die Pace-Car-Crew. Ich will noch nicht pausieren und dränge zur Eile. Nur keine Zeit verlieren. Um acht Uhr überquere ich die Donau.
Kälte in Kärnten
Es geht am Neusiedler See vorbei bis zur ungarischen Grenze im Burgenland, dann durch den südlichen Zipfel der Steiermark entlang der slowenischen Grenze in Richtung Kärnten. Normalerweise ist es hier im August sehr warm, doch jetzt blieb das Wetter richtig schlecht. Es regnet und regnet immer weiter.
Mir ist so kalt, ich bin schon halb in Trance, die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen. Ich bin mir sicher, dass mich meine Crew falsch leitet und ich im Kreis fahre. Nachts wartet die größte Hürde auf mich: der Großglockner, bergauf und bergab. Dort oben schneit und stürmt es. In Lienz muss ich absteigen. Eine Stunde Schlafen im Wohnmobil. In der Zeit fällt eine wichtige Entscheidung: Die Großglocknerhochalpenstraße wird wegen der Wetterlage gesperrt.
Die Ersatzroute führt über den Felbertauernpass, wir Fahrer müssen für den fünf Kilometer langen Tunnel ins Auto steigen. Andere Fahrer haben weniger Glück. Sie werden erst mitten im Anstieg „zurückgepfiffen“. Die Abfahrt vom Felbertauernpass ist lang und nass und eiskalt, ich ziehe vorher alle Hosen, Jacken und Handschuhe übereinander an.
Schmerzen und Pausen
In der Nacht geht es durch die Tiroler Berge. Über die Gerlos ins Zillertal und durch Innsbruck. Als es hell wird, steht das Kühtai vor mir. Steile 1.400 Höhenmeter. Oben hat es drei Grad. Klamottenwechseln, weiter. Später tut auch noch die unendlich lange Abfahrt durch das Paznauntal weh. Erst muss ich gegen extremen Gegenwind kämpfen, dann gegen die Silvretta Hochalpenstraße. Es regnet.
Mein Tritt wird immer unrunder, das Sitzen immer schmerzhafter, die Geschwindigkeit immer langsamer. Meine Betreuer machen sich Sorgen, ob ich die Karenzzeit schaffe. In Bludenz brauche ich dann eine außerplanmäßige Pause mit einem 15-Minuten-Powernap. Danach warten das Faschinajoch und der Hochtannbergpass. Ich krieche so langsam nach oben, dass Betreuer Jörn neben mir herlaufen kann, um mich anzufeuern und abzulenken.
Ich habe keine Ahnung, welcher Tag heute ist oder wo ich gerade bin – ich will nur stehen bleiben. Meine Leute reden es mir aus, in unserem Plan ist keine Pause vorgesehen. „Ein Berg noch“, sagen sie. „Ein Berg noch“, murmele ich mir selbst vor. „Einer noch.“ Mehr Gedanken sind nicht in meinem Kopf. Nur: Drücken, Ziehen, Drücken, Ziehen. Treten. Treten.
Dann, endlich, die Passhöhe. Meine Leute klatschen mich ab. Eine Abfahrt noch, dann steige ich ins Wohnmobil. Jetzt nützt kein Powernap mehr etwas, ich muss mir Zeit nehmen, bevor ich weiterfahre, drei Stunden.
Pause vom Leben
Drei Uhr, Aufsitzen. Die letzte Etappe, so ist der Plan. Ich kann kaum mehr sitzen, alles ist offen und entzündet. Kaum Losgerollt muss ich schon wieder anhalten. Was soll ich nur tun? Wir versuchen etwas Verrücktes und verstellen die Sattelposition komplett. Ich setze mich, der Schmerz ist noch immer da, aber anders, weniger stark. Es geht über den Fernpass in Richtung Kufstein. Und es geschieht ein Wunder: Ich sehe ein rundes gelbes Ding am Himmel. Die Sonne, zum ersten Mal seit Tagen.
Es wird wieder dunkel. Noch 80 Kilometer. Meine Leute fahren immer wieder voraus, stellen sich an jeden kleinen Anstieg und brüllen mich hinauf. Um kurz vor 23 Uhr bin ich da, wo ich angefangen habe. Im Ziel. 108 Stunden und 24 Minuten nachdem ich losgefahren bin. Jetzt geht das Leben weiter. Viereinhalb Tage lang stand es still. Man ist alleine mit sich. Mit dem Elementarem.
Der Autor
Michael Kochendörfer, 46, fährt seit rund zehn Jahren Marathon- und vor allem 24-Stunden-Rennen. Beim Race Around Austria belegte er als Neuling den sechsten Platz. Seine Zeit: 108 Stunden, 24 Minuten. In der offiziellen Zeitwertung wurden noch vier Stunden dazugerechnet, welche die Fahrer am gesperrten Großglockner „gutgeschrieben“ bekamen. „Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Team, das die Aufgaben super bewältigt hat und mich rund um die Uhr betreute.“
Das Rennen
Die Fakten: 2.200 Kilometer, 30.000 Höhenmeter. Der Sieger, Christoph Strasser, stellte 2014 einen neuen Rekord auf: drei Tage, 15 Stunden und 24 Minuten. Nur 13 der 25 gestarteten Solofahrer erreichten das Ziel.
Michael Kochendörfers Ernährungsplan während des Rennens: Flüssignahrung (ein Kohlenhydrat- und Proteingetränk), ab und zu etwas Festes in Form von Bananen, Riegelstückchen und Reißwaffeln. 10.000 bis 13.000 Kalorien pro Tag. www.racearoundaustria.at/